Normative und psychologische Ethik

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1896
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Published in/Publicerad i/Julkaistu: Dritter internationaler Kongress für Psychologie 1897, 428-31. Munich: Verlag von J. F. Lehmann.

The Edvard Westermarck Online Collection, Filosofia.fi (Eurooppalaisen filosofian seura ry) <http://filosofia.fi/Westermarck> ed./red./toim. Juhani Ihanus, Tommy Lahtinen & Yrsa Neuman 2011. Transkribering/Litterointi/Transcription: Filosofia.fi.

Sektion V.

        Vergleichende und pädagogische Psychologie.

Erste sitzung.

        Dienstag 4. August, Nachmittags 3 Uhr.

        Vorsitzender: Dr. Andreae (Kaiserslautern).
        Schriftführer: Dr. Offner (München).

Normative und psychologische Ethik.

    Von Dr. Edward Westermarck, Helsingfors (Finnland).

    Die Ethik ist, nach der gewöhnlichen Auffassung, eine normative Wissenschaft, eine Zwillingsschwester der Logik. Die Richtigkeit dieser Auffassung kann in Frage gestellt werden. Die Satzungen der Logik besitzen eine unwidersprechliche Giltigkeit, weil jeder Mensch, der ihren Inhalt versteht, sie auf Grund der Natur seines Denkens, für richtig halten muss. Es ist die Frage, ob auch die Normen der Ethik eine solche Allgemeingiltigkeit besitzen, d.h. ob es etwas objectiv Sittliches gibt, was von jedem genügend aufgeklärten Menschenverstand als sittlich anerkannt werden muss. Die Verschiedenheit in der Auffassung von dem moralischen Gehalt einer Handlung beruht oft darauf, dass Einer sie für übereinstimmend, ein Anderer für nicht übereinstimmend mit einem Sittengesetze hält, welches von beiden als richtig an­erkannt wird. Die Schwankungen des sittlichen Bewusstseins bei den Menschen beruhen also, wie diejenigen der theoretischen Ansichten zum grossen Theil auf mangelnder Einsicht. Aber es ist die Frage, ob diese Schwankungen ausschliesslich der ge­nannten Quelle entspringen, m. a. Worten, ob es überhaupt ein
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oberstes Moralprincip gibt, welches auf dieselbe absolute Allgemeingiltigkeit Anspruch machen kann, wie der logische Satz, dass A nicht zu gleicher Zeit B und nicht B sein kann, welcher Satz der Objectivität der Wahrheit zu Grunde liegt.
    Diejenigen, welche die Ethik als eine Normwissenschaft betrachten, setzen voraus, dass ein solches oberstes Princip da ist. In diesem Punkte stimmen die theologische Ethik, der Intuitionismns, der egoistische Hedonisnms und der Utilitarismus mit einander überein. Die theologischen Moralphilosophen finden, dieses erste Princip in einer Urkunde gegeben, welche der gött­lichen Autorität zugeschrieben wird; diejenigen aber, welche die Ethik auf natürliche — keine übernatürliche — Grundlage basirt wissen wollen, müssen Geschichte und Ethnographie, Gesetzbücher und religiöse Urkunden, Poesie und Kunst, sowie auch ihre eigenen Reehtsbegriffe und diejenigen der Zeitgenossen auf's Genaueste durchforschen, um die Einsicht zu erwerben, welche Grundeigenschaft dem sittlichen Bewusstsein als solchem, unab­hängig von zufälligen Umständen, wie Rasse, Geschlecht, Bildungs­stufe u. s. w.. zukommen mag. Wenn dabei ein überall wieder­kehrendes Sittengesetz angetroffen wird, mag man ihm dieselbe objective Giltigkeit zuschreiben, welche den Satzungen der Logik auf Grund ihrer Selbstevidenz zukommt; wo nicht, muss die Hoffnung auf den Aufbau einer ethischen Normwissenschaft auf­gegeben werden. Die Pfleger der Ethik sind leider nicht mit solcher Sorgfältigkeit zu Werke gegangen. Trotz der Mannig­faltigkeit der Moralsysteme ist noch keine ethische Theorie aufgestellt worden, die auf einer genügend umfassenden Unterlage von Thatsachen geruht hätte, und selbst die Möglichkeit einer normativen Wissenschaft ist noch immer unbewiesen.
    Der Referent ist seit mehreren Jahren damit beschäftigt, zu erforschen, was Menschen von verschiedenen Rassen zu ver­schiedenen Zeiten für sittlich und unsittlich gehalten haben, um dadurch womöglich eine generelle Auaffssung von dem Ursprung und der Natur des sittlichen Bewusstseins zu gewinnen. Ob­gleich die Abschliessung dieser Untersuchung noch einige Jahre in Anspruch nehmen wird, glaubt Referent jetzt schon die Behauptung riskiren zu können, dass die Uebereinstimmung, welche zwischen den Rechtsbegriffen der verschiedenen Individuen und Völker sich findet, hauptsächlich nur formeller Natur ist, und darum nicht geeignet, als oberstes Princip einer normativen Ethik
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zu dienen. Er verzweifelt jedoch nicht an der Zukunft der Ethik, weil er als ihre erste Aufgabe hinstellt, nicht die Gesetz­gebung für das menschliche Handeln, sondern das Herausfinden der Gesetze, denen die ethische Abschätzung der Handlungen thatsachlich folgt, nicht eine Norm Wissenschaft zu sein, sondern eine psychologische Disciplin, deren Untersuchungsobject das sittliche Bewusstsein in seinem ganzen Umfange ist. Der wissen­schaftliche Werth dieser psychologischen Ethik wird nicht da­durch bestimmt, ob ihre Resultate eine ethische Normwissenschaft ermöglichen oder nicht; sie macht sich ganz unabhängig davon, ob es überhaupt etwas objectiv Sittliches gibt.
Discussion.

    Dr. Riess (München): Nicht alle bisherige Ethik war normativ. Die Thatsache der „Relativität der ethischen Wertungen" war schon dem griechischen Alterthum bekannt. Nach einem i n h a l t l i c h e n Kriterium der Sittlichkeit sucht bereits Kant nicht mehr. Die Enthnologie der Sitten verdient am wenigsten den Namen „psychologischer" Ethik im Gegensätze zu einer anderen Ethik, sie liefert dieser nur das Material. Die wissenschaftliche Ethik beginnt erst, wo diese aufhört und kann ihre eigenen Probleme (Theorie der Werthe, Freiheit des Willens etc.) mit einem relativ geringen Material angreifen.
    Normativ kann überhaupt eine Wissenschaft nur sein, wenn sie ein Ziel hat, wie z. B. die Hygiene die Erhaltung der körperlichen Ge­sundheit. Ethik als „seelische Hygiene" für unmöglich zu erklären, ist unberechtigt.
    Dr. Eisenhaus (Riedlingen): Anknüpfend an eine Bemerkung des letzten Herrn Eedners möchte ich die psychologische Ethik in Schutz­nehmen. Die nicht-normative Ethik heisst mit Eecht eine psycho­logische, weil ihr Gegenstand, das sittliche Bewusstsein, eine psychische Thatsache ist. Wenn deshalb Herr Dr. Westermarck der normativen Ethik eine psychologische gegenüberstellt, so schliesse ich mich dem durchaus an, nur mit stärkerer Betonung eines von ihm weniger scharf hervorgehobenen Gesichtspunktes. Ausschlaggebend ist der Begriff der Norm. Ist das, Gesetz, im gewöhnlichen Sinn eine einfache Verallgemeinung von Thatsachen, so unterscheidet sich die Norm von dem­selben nur dadurch, dass sie als ein Befehl oder als eine Forderung an einen W i l l e n der ihr entsprechen soll, herantritt. Die Norm wendet sich also nicht an das Verständniss, sondern an den Willen des einzelnen und führt darum zu einer Technik und nicht zu einer Wissenschaft, sie ist nicht auf den Begriff der Wahrheit, auf welchem die Wissenschaft ruht, sondern auf den der Zweckmässigkeit und Freiheit gegründet. Für die Wissenschaft als solche gibt es keine Norm, kein Sollen, keine Kunst­lehre, sondern nur Thatsachen, Gesetze, Hypothesen — dies gilt auch für die Logik. Und dies ist ein Punkt, in welchem ich Dr. Wester-

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marck nicht beistimmen kann. Er sagte, die Sätze der Logik seien selbstverständlich, haben Anspruch auf unbedingte Gültigkeit. Dem gegen­über ist festzustellen, dass in dieser Beziehung die Logik kaum irgend besser daran ist, als die Ethik. Nicht einmal über die einfachsten Gesetze der Logik ist unter den Gelehrten der Gegenwart allgemeines Einverständnis vorhanden. Für die Logik wie für die Ethik gilt das Gesetz der Relativität. Für beide muss behauptet werden, dass sie einer Allgemeingiltigkeit sich erst da nähern, wo gewisse Bedingungen dazu vorhanden sind. Die geistige Entwicklung gleicht darin der organischen, dass sie Abnormitäten aufweist, w o d i e E n t w i c k l u n g s b e d i n g u n g e n  f e h l e n  o d e r  a b n o r m  s i n d. Als Hauptfaktoren der Entwicklung des  sittlichen Bewusstseins betrachte ich die Intelligenz und das, soziale Leben. Vielleicht ist es mir noch zum Schluss verstattet, darauf hinzuweisen, dass ich dieses Programm einer psychologischen Ethik in meinem Werk über Wesen und Entstehung des Gewissens (eine Psychologie der Ethik,  Leipzig 1894) eingehender entwickelt habe.
    Dr. C. S. Schiller (Cornell Univ. U. S.A.): Die Frage: Wie ent­wickeln sich die normativen Wissenschaften aus dem psychologischen Thatbestand? betrifft nicht nur die Ethik sondern auch die Logik und die Aesthetik, und es genügt nicht, einfach zu sagen, es gibt nichts objektiv ethisches (resp. logisches oder ästhetisches). Der Versuch lässt sich wohl machen, nicht aber durchführen. Ueberdies gibt Dr. Westermarck eine gewisse formelle Uebereinstimmung zwischen den ethischen Urtheilen verschiedener Personen zu. Warum sollte das denn nicht für die Formulirung eines „objectiven" Sittengesetzes genügen? Denn der Inhalt eines solchen muss begreiflicher Weise sich nach den Zeitverhältnissen sund Lebensbedingungen richten und mit deren Veränderung sich ändern. Dagegen würde eine Formulirung des „richtigen" Handelns als „das dem obersten Zwecke gemässes Handeln" so ziemlich allen den Meinungs­verschiedenheiten über die höchsten Zwecke und über die Methoden, dieselben zu erreichen, entsprechen und die inhaltlichen Unterschiede der ethischen Urtheile erklärlich zu machen. Aber freilich steht darum doch noch die Originalfrage nach dem Wege, auf dem die Berechtigung des Normativen anerkannt wird.
    Dr. Westermarck (Helsingfors): Against the first Speaker Ref. stated that, according to his opinion the object of Ethics was „das Heraus­finden der Gesetze, denen die ethische Abschätzung der Handlungen thatsächlich folgt", thus not only to collect facts. In opposition to the last Speaker Ref. thinks that „die formelle Uebereinstimmung" between moral ideas is not sufficient to serve as base for a „normative Ethik".